Anna Rudolf lädt mich ein, mich auf ihre Arbeit einzustimmen, auf dieses monumentale, sich fortlaufend entwickelnde Werk, das im Espace Arlaud in Lausanne entstanden ist. Die zwei nachfolgenden Texte sind aus dieser Begegnung hervorgegangen.
Christian Jelk, 7. November 2023

Die wilden Ritte des Strichs

Eine Zeichnung beginnt.
Grosse Rollen mit weissem Papier.
Das Weiss explodiert beim Abwickeln.
Ein grauer Saft, Kohle.
Ein Strich.
Die Hand führt den Strich.
Der Strich führt die Hand.
(wer weiss? Wir Zeichnenden wissen, dass es sich um eine doppelte Bewegung handelt, dass es wie eine Absenz,
dass es berauschend und zugleich beunruhigend ist. Eine Form des Absoluten)

Ein auf dem Rücken liegender, zufriedener Hund.
Ein Fuss.
Ein schwarzer, kräftiger Strich, der ein Anderswo herbeiruft.
Neues Blatt, neue Bahn, von der Rolle abgeschnitten.
Etwas anderes wird skizziert,
Anderswo im Atelier (oder anderswo im Museum, für diese Performance auf einem alten, kreuzartig strukturierten Holzfussboden), ein anderer Entwurf.  

Später wird die Zeichnung aufgehängt.
Es regnet Kohle.

Eine erste Papierbahn.
Eine weitere wird vielleicht auf sie antworten, oder sich an ihr reiben;  
Eine Spannung suchen, die neue tierische Wesen schafft:
Alle diese Striche sind wie der Bauch eines riesigen Wals,
In dessen Innerem man manchmal die nachtschwarzen Eingeweide erkennt,
Und manchmal ein Bestiarium, verschlungen vom Wal,
Oder geträumt,
Und im Laufe mehrerer Verdauungsabläufe neu zusammengesetzt.
(der Wal von Jonas vermischt mit der Höhle von Platon?)

Das Auge folgt einem Strich oder wird von einem im Entstehen begriffenen Tier gefangen,
Gans, Pferd, Hund zwei Hunde, Mensch
Und dort, was ist das? Dem Kohleblock, der Hand, den Gesten der Künstlerin scheint der Strich zu entspringen, der den schlafenden Keim all dessen birgt, was lebt.
Manchmal horizontal, die Papierrolle auf den Boden des Ateliers gekippt (verfolgt die Hand die Spuren all dieser Tiere, und schweift sie auch ab, folgt dem eigenen Vergnügen, dem Vergnügen an dem, was sie eingefangen hat, wie ein Seismograf, oder eine Nachtkamera, die im Wald des Unbewussten einen Wolf oder einen Luchs sucht?),
manchmal vertikal.
Und jener Moment, wo die Zeichnung aufgerichtet wird,
ihre Präsenz im Raum bekundet,
ihre Majestät behauptet.
Die Majestät der wilden Tiere,
denn die Zeichnung ist wild.
Die Zeichnung ist Wald und Lichtung zugleich.
Sie ist die Ruhe, ein Gegenstück zur Hysterie unseres Lebens.

Ich bin hier umgeben von überall.
Diese riesigen Bilder sind wie besänftigte Wächter, 
die Ruhe atmen.
Und dennoch wirkt jede von Anna Rudolfs Linien wie ein Schrei.
Ein dunkler Schrei,
doch er ist der Umriss eines Lichts, das uns dargeboten wird,
unverhüllt und zugleich geheim.
Wenn ich mich ihm öffne, dann wird dieser Schrei zum Gesang,
dann suchen diese Striche harmonische Schwingungen mit meinem Skelett,
meinen Körperflüssigkeiten,
damit ich mich mit ihnen erhebe,
mich mit ihnen verliere.

            *

Anna baut in diesem Museumsraum ihr Atelier nach. Ein geschlossener Raum ohne Himmel. Die Wände sind bedeckt mit Blättern, bedeckt mit Zeichnungen. Eine seltsame Kapelle, still und gleichzeitig von bevorstehenden Klängen erfüllt (so angespannt wie ein Hund, der mitten in einem wildreichen Wald auf der Lauer liegt), in der die Striche sich umschlingen vermischen, Tiere auftauchen, im Augenblick des Strichs, in der Intensität des Strichs schwebend.
Das Auge wird von den Linien gefangen.
Es sieht nicht alles, während der Körper alles aufnimmt. Eine geballte Ladung.
Man hält den Atem an, ohne zu denken.  
(später, als ich Anna beim Abhängen ihrer Zeichnungen helfe, tauchen plötzlich neue Ausschnitte, ein neues
Liniengeflecht auf, während andere verschwinden.)
Das Aussen dieses nachgebildeten Ateliers ist ein grosser Saal eines alten Museums.
Fünf Meter hohe weisse Wände, ein alter Fussboden, schönes, von oben einfallendes Licht.
Leer, bis auf das als Negativ eingefügte Atelier.
Die Rückseite eines Bühnenbildes.
Anna stellt sich der Herausforderung, ihre Arbeit hierher zu verlegen. Papierrollen, eine Leiter warten (die Graphitstücke, der graue Saft und andere Geräte tauchen erst auf, als die Künstlerin die Zeichnung in Angriff nimmt.) In einer ersten Arbeitsperiode von drei Tagen werden auf drei Wänden drei Genesen abgewickelt. Eine zweite Periode, eine Fortsetzung. Die Zeichnungen werden unterbrochen, wieder aufgenommen, antworten einander.
(Chemische Analysen der Höhlenmalereien in der Grotte von Chauvet haben gezeigt, dass das Profil eines Hirsches von zwei verschiedenen Personen gezeichnet wurde, im Abstand von mehr als 3000 Jahren. Was spricht, ist die Zeichnung. Die Hand des Künstlers ist eine Passage).

Anna scheint es darum zu gehen, die Wände des Museums in Schwingung zu versetzen, um ihr Bestiarium
anzulocken und es mit ihrem Körper, ihren Gesten und ihren Linien in Erscheinung treten zu lassen. Sie ist eine
Antenne, und sie beherrscht die Kunst des Zeichnens. Sie kennt den Wert des leeren Raums. Es gilt, seine
unbegrenzte Weite zu beschwören, in der sich die Linie entfalten kann, und all die wilden Ritte, die diese Linie von
der Hand der Künstlerin bis zu unseren Augen, unserem Bauch und unseren Gefühlen befördern wird.       

Eines Tages, später, werden die Werke und die Replik des Ateliers abgenommen, abgebaut. Doch im Saal des Museums bleibt ein gewisser Atem zurück. Ich halte den meinen an und lausche dem Flüstern des Bestiariums in der Ferne.