Claus-Pierre Leinenbach

Aus der Eröffnungsrede, Villa Renata, Basel, Oktober 2014

"In ihren Zeichnungen spüre ich einen Primär-Impuls, eine Ur-Idee, die Anna Rudolf den Anlass zum Zeichnen gibt. Die Blätter übertragen ein unverfälschtes Anfangsmoment, vielleicht kann man sagen, den Grund für ihr Kunstschaffen. Wenn ich eine ihrer Zeichnungen sehe, stelle ich mir vor, wie es beginnt mit dem Eintauchen der Feder in das schwarze Tintenfässchen und dem darauffolgenden Auftauchen einer Linie im weissen Papier. Dann verwundere ich mich darüber, wie es plötzlich sein kann, dass diese erste Linie wieder eine andere Linie nach sich zieht und beide sich gegenüber dem weissen Raum in ein gemeinsames Verhältnis setzen, welches immer so faszinierend unbestimmbar bleibt. Manchmal erscheint es mir so, als ob sich Anna Rudolf’s Linien im unendlichen Raum befinden und eigentlich gar nicht mehr auf dem Papier sind, sich dort sozusagen für die kurze Dauer einer zeitlich begrenzten Existenz aufhalten, um sich irgendwann doch wieder davon zu lösen, und sich in ihr Tintenfässchen zurückziehen, als wären sie nur ein Aufblitzen von Schwarz im Weiss gewesen. Auf ein scheinbar inhaltslos-freies Gekritzel ihrer früheren Bleistiftzeichnungen folgt in späterer Zeit eine Reihe von Tintenzeichnungen, auf denen manchmal tierhafte Wesen und menschähnliche Gestalten sich miteinander beschäftigen und aufeinander reagieren. Sie sind dort, um gefüttert zu werden mit feinen Tintenpünktchen, oder sie erproben ihre kraftlosen, neugeborenen Glieder im luftleeren Raum. Man staunt und lacht und und sollte diesen Wesen auf eine besondere Art und Weise begegnen."