Simon Baur, Kunsthistoriker
Über die Arbeit von Anna Rudolf, Dezember 2011
"Das Haus, in dem sie aufgewachsen ist, ist in meiner Erinnerung weiss. Die Mauern sind weiss, die Fensterläden, auch das Flachdach. Nur der Garten ist nicht weiss. Anna Rudolfs Kunst scheint mir von diesem Haus geprägt zu sein, es gibt fotografische Arbeiten, die in diesem Haus stattfinden. Ich denke vor allem an eine Stimmung, ein Gefühl, das diffus bleiben muss, um als solches weiter bestehen zu können. Ähnlich wie eine Lichtstimmung oder der Geschmack einer in Lindenblütentee getauchten Madeleine die Kindheit wie einen Traum auferstehen lässt, macht Anna Rudolf Kunst. Mal ist es der Sandsturm, der die Bewegungen verunsichert, die Seestücke bedeckt, mal sind es einige Boote, die teilnahmslos am Strand liegen, oder Menschen, die ohne Worte einen Raum beleben. Es sind die Lichtkonturen in einer Tramremise in Amsterdam, die einen an Häuser denken lassen, aber auch von Blitzen erhellte Nächte. Überblendungen, Spiegelungen und Lichtflecken verändern die Räume, versetzen sie in unbekannte Zustände, machen sie zu Orten, die sie nie wieder sein werden. Oder es sind Fotografien von Nebensächlichkeiten, einem Loch in der Hecke, Tauben auf roten Dachziegeln, einer Hecke am Hügel, einem nackten Ellbogen, der aus einem kurzärmligen Hemd schaut. Und es sind Zeichnungen bestehend aus wenigen Strichen, die vieles zeigen und sich doch nicht mit Sicherheit auf einen Zustand festlegen lassen, die vielleicht Zeichen sind, vielleicht auch Gedanken, Ideen auf jeden Fall für Rückblicke und Träume dieser literarischen Kunst.
In Arbeiten, die sie in der Ausstellung „meubler la solitude“ zeigte, entwickelte sie nicht nur ihr Einsamkeitsmobiliar konsequent weiter, sondern versah sie auch mit den Assoziationsmomenten textlicher Ebenen. „Haben Vögel die Augen geschlossen in der völligen Dunkelheit?“ und „Ist ein Vogel blind, spürt er den Weg durch die Luft?“ steht auf zwei Lichtsäulen. Daneben befanden sich Lichtsäulen mit verschneiten Wäldern und ein Foto eines Hundes neben einer Kiste. Mit minimalen Hinweisen, Zeichen, Gesten und Assoziationen werden Türen zu gross angelegten Gedankenräumen aufgestossen, durch die sich die Betrachter selbst ihre Wege hindurchbahnen sollen. Diese Wege erweisen sich aber nie als Labyrinthe, sie laden vielmehr ein zum Picknick am Wegesrand und erlauben gleichzeitig schöne Ausblicke, die dem Müssiggang besonders erquickende Momente verleihen."